Die kleine Welle

Munter geht es auf und ab. Dann endlich ist das Wattenmeer erreicht. Die kleine Welle atmet einmal kräftig durch. Jetzt beginnt der aufregende Teil ihrer Reise.

Schon muss sie ein kleines Ringelwurmwatthäufchen umschiffen und da, ja da kommt noch eines. Sie klopft kurz an, und der Wattwurm schaut träge aus seinem Häufchen hinaus. „Ist es schon wieder soweit?“, fragt er müde und gähnt einmal herzhaft. „Ja, wir kommen“ lacht die kleine Welle und läßt eine kleine Schaumkrone blitzen.

Tag ein Tag aus , im Sommer und im Winter, im Frühling und im Herbst, wenn es kalt ist oder warm, wenn es hell ist oder dunkel – immer wieder kommt und geht das Wasser. Jeden Tag zwei Mal, immer wieder, unermüdlich, hin und her. Und immer noch ist es spannend.

Auf ihrem Weg begrüßt sie ihre vielen Freunde. Sie trifft den Aal, der sich durch das Wasser schlängelt, die Krabben, die in riesigen Schwärmen an ihr vorüberziehen, den Barsch, die Qualle, die Muschel aus Perlmutt, und Schnecken und Muscheln auf ihrem langen Marsch. Und den Butt, der mit dem Krebs um den besten Platz im weichen Watt streitet.

Die kleine Welle wird von einem Sog durch einen kleinen Priel gezogen. Sie schwappt kurz an einem Algenteppich vorbei, schrammt haarscharf an einem Miesmuschelfeld entlang und erreicht kurz danach ein etwas höher gelegenes Areal. Sie kämpft sich wacker den kleinen Anstieg hinauf, schnauft kurz durch – und schwappt an – ja an was denn? – an einen großen Haufen merkwürdiges Krimskrams.

Entsetzt hält sie inne und sieht sich um. Ein alter Reifen liegt dort. Ein kaputter Schuh mit einem großen Loch vorne am großen Zeh. Eine grüne Flasche auf der sich schon einige Algen festgesaugt haben, ein rostiger Eimer in dem noch trübe das Wasser der letzten Flut wabert und gaaanz viel Plastik. Plastiktüten, Plastikflaschen und Plastikverpackungen.

„Was ist denn hier passiert!“, fragt die kleine Welle erschüttert den Butt. Träge schaut er sich um. „Das kommt von den Menschen und von den Schiffen,“ brummt er und gräbt sich angewidert wieder in`s Watt ein.
Die kleine Welle kann das nicht verstehen.

Warum machen die Menschen denn so etwas? Sie schüttelt sich verständnislos und kräuselt verstimmt ihren Wellenkamm. Die kleine Welle umspült den Unrat vorsichtig, schnuppert hier und da an dem Müll und beeilt sich, dieses traurige Stätte schnell zu verlassen.
Und es geht voran, weiter, immer weiter Richtung Festland. Weiter, weiter, – traurig lässt sie sich von den anderen, großen Wellen antreiben.

Etwas kitzelt sie. Sie schaut sich um, links und rechts- und da kann sie schon wieder lachen. Eine Möwe hat sich auf ihr niedergelassen und lässt sich von ihr gemütlich hin und her schaukeln- „Hast du auch den ganzen Müll gesehen?“, krächzt die Möwe. „Klar“ antwortet die kleine Welle. „Das ist ganz schlimm, da muss man doch was dagegen machen. Der Dreck muss weg! Aber wie sollen wir das bloß anstellen?“

Sie schaut sich suchend nach den hohen Wellen um. Die müssten doch wissen, wie man das macht, die sind doch schon groß. Die kleine Welle dreht sich und läuft auf die großen Wellen zu. „Hoppla“ krächzt die Möwe da schon wieder, als dabei ein kleiner Wirbel entsteht, und sie kopfüber ins Wasser fällt.

Die großen Wellen hören ihrer kleinen Freundin geduldig zu, nicken verständnisvoll, beraten sich kurz und schon nach kurzer Zeit fangen sie an, breit zu grinsen: „Da gibt es eine Möglichkeit, pass gut auf!“

Sie formieren sich, drehen sich, wenden sich, bauen sich auf, pumpen sich voll, machen sich wieder klein, bauschen sich auf, werden groß und größer, ihre Bäuche scheinen zu platzen, lassen sich wieder zusammenfallen und dann geht das Ganze wieder von vorne los. Immer wieder, immer zu und noch einmal …

Zur gleichen Zeit legt sich über das eben noch ruhige Wasser eine Sprühnebelschicht aus Gischt und Wind. Gerade war das Wasser noch klar und blau – jetzt sieht alles grau, dunkel und kalt aus.

Ganz unheimlich wird der kleinen Welle da zumute. Sie schaut sich das Schauspiel erstaunt und fasziniert an. Ihre Freunde, die großen Wellen legen sich mächtig ins Zeug, immer toller wird das Spiel, -und rasend schnell kommt das Festland immer näher. Jetzt bekommt es die kleine Welle aber richtig mit der Angst. Sie geht erst mal in Deckung und schaut sich alles aus einer sicheren Position an.

Die großen Wellen legen mit der Geschwindigkeit noch einmal richtig nach, bäumen sich gewaltig auf – und brechen mit einer Wucht gegen das Festland, dass es nur noch so kracht! Und noch einmal und noch einmal. Immer wieder, rauf und runter, hin und her. Der Sog wird immer stärker. Die kleine Welle kann sich nur noch mit Mühe festhalten, und die großen Wellen toben und wüten, und sie peitschen und klatschen mit einer Macht an das Land, wie sie es nie für möglich gehalten hätte.

Plötzlich ist das Schauspiel vorbei. Die kleine Welle kommt aus ihrem Versteck heraus und verschafft sich einen Überblick. Die Sonne scheint wieder am strahlend blauen Himmel, das Wasser hat sich beruhigt und schwappt noch kurz ans Land, – um sich dann auch schon wieder langsam zurückzuziehen, – wie es sich eben für ein ordentlich, ablaufendes Wasser gehört.

Erschöpft lässt sich die kleine Welle gerne von den Großen zurücktragen. Zu sehr muss sie noch über das eben Erlebte nachdenken.

Die Möwe lässt sich wieder auf ihr nieder, klopft ihr kurz auf den Rücken und krächzt zu den großen Wellen hinüber: „Klasse gemacht Jungs, alles wieder sauber und wieder da, wo es hingehört!“

Erstaunt schaut sich die kleine Welle um, – und da sieht auch sie es endlich.

Der ganze Müll, der Schuh, der rostige Eimer, ein Berg aus Plastik, die algenbewachsene Flasche und sogar der alte Reifen, liegen bunt durcheinander auf dem Festland.

Ein riesiger Haufen Unrat, von den großen Wellen an das Land gespült, wieder da, wo er hergekommen ist. Strandgut, -zurück zu den Menschen!

Die kleine Welle lacht und schaut bewundernd ihre großen Wellenfreunde an. Die lassen sich von ihren Bewohnern, den Fischen, Krebsen und Krabben feiern und tragen mit Stolz ihre sauberen, schneeweißen Schaumkronen.