Unter jedem Dach wohnt ein Ach

Die Großmutter kehrt von einem Plausch mit der netten Nachbarin, Frau Hecke, zurück. Sie hatten sich gegenseitig die neuesten Nachrichten aus der Süderstrasse erzählt. Im Vorbeigehen streicht sie Jette liebevoll über den Kopf und murmelt: „Ja ja, unter jedem Dach wohnt ein ‚Ach’“, um dann kopfschüttelnd durch die Klönschnacktür in ihrem kleinen Häuschen zu verschwinden.

„Ein ‚Ach‘, was mag das wohl sein?“, denkt Jette. Ein Kobold? Ein kleines wildes Tier? Oder womöglich etwas unvorstellbar Gruseliges? Und dann auch noch unter jedem Dach. Sie schaut sich Omis Haus noch einmal etwas genauer an: die weiß gekalkte Fassade mit den kleinen Fenstern, durch die bunt geblümte Vorhänge wehen, das tief hinuntergezogene rote Ziegeldach, die Regenrinne, unter der die Schwalben ihre Nester gebaut haben, und den windschiefen Schornstein. Wo soll denn da das ‚Ach‘ wohnen? Vielleicht auf dem kleinen Spitzboden unter dem Ziegeldach, oder in der kleinen dunklen Nische hinter der Bodentreppe? Jette bekommt eine Gänsehaut.

Sie beschließt, ihre Großmutter noch einmal genauer nach dem ‚Ach‘ zu befragen und läuft schnell in die gemütliche Küche, in der die Großmutter das Mittagessen zubereitet. Heute soll es Jettes Lieblingsessen geben. Milchreis mit Zimt und Zucker und eine große Schale mit heißen Kirschen. Hmmm, lecker, freut sich Jette.

„Omi, wohnt eigentlich auch unter unserem Dach ein ‚Ach‘?“

„Ja natürlich, meine Kleine, unter jedem Dach wohnt ein ‚Ach‘.“ Langsam lässt sie den Reis in die heiße Milch rieseln und rührt mit einem alten Holzkochlöffel kräftig im Topf.

„Und wo genau?“ Jette lässt nicht locker. “Und wie sieht es aus?“

Oma schmunzelt und sagt: „Schau dich nur ruhig um. Ich bin ganz sicher, dass du es finden und erkennen wirst.“

Nach dem Mittagessen macht sich Jette auf die spannende Suche. Sie tastet sich die wackelige Spitzbodentreppe hinauf, und nachdem sie die alte, morsche Tür geöffnet und sich kurz umgeschaut hat, ruft sie eher zögerlich: “Wohnt hier ein ‚Ach‘?“. – Keine Antwort. Dann ruft sie noch einmal etwas lauter: „Wohnt hier ein ‚Ach‘??!“ Nichts, niemand antwortet ihr. Sie schaut sich auf dem alten Dachboden um. Die alten Dielen sind morsch und zerfallen, durch das Dach glitzert die Sonne. So viele Ziegel fehlen schon, und der Schornstein zerbröselt langsam zu Staub. Ächzend schließt sich die alte Tür hinter ihr. Das Geräusch, das sie dabei macht, hört sich für Jette wie ein gequältes „Ach“ an. Und noch ein Geräusch lässt sie ängstlich zusammenzucken. Ein unheimliches Rascheln, ein Grunzen, ein Strunzen und Grieseln und ein furchtbar lautes Rülpsen erfüllt die alte Dachkammer!

„Ach?“, ruft sie noch einmal zögerlich – und duckt sich schnell unter dem morschen Balken. Sie zittert vor Angst, die Gänsehaut läuft ihr rauf und runter, hin und her, kreuz und quer.

„Johoo“, schnarrt eine rostige, rauchige Stimme. „Wer stört?“

„Jettete“, stottert Jette, „ich bin`s Jette.“ Und sie schaut sich ängstlich nach der Stimme um. Da sieht sie es. Ein unbeschreibliches Etwas sitzt schräg unter der Dachluke, in der einen Hand einen roten Dachziegel, in den er genüsslich reinbeißt, und mit der anderen Hand zerbröselt er ein Stück Dachbalken zwischen den dicken Fingern. Krachend beißt er ein weiteres Stück vom Ziegel ab. Die struppigen Haare stehen nach allen Seiten ab. Seine Kleider sind schmutzig und zerrissen und seine Füße starren vor Dreck. Und wie Es riecht! Jette schüttelt sich.

„Johoo Jette, was willst du?“, und dabei staubt eine dicke rote Wolke aus seinem Mund.

„Ich, ich … bist du ein ‚Ach‘?“, flüstert Jette. Jetzt ist es raus. Jette ist vor Angst schon ganz übel.

„Johoo, ich bin ein ‚Ach‘. Warum fragst du? Was willst du von mir? Was ist los?“

„Unter jedem Dach wohnt ein ‚Ach‘, hat Omi gesagt. Ich wollte nur mal schauen, ob das stimmt“, flüstert sie. „Was machst du denn hier bloß?“

„Ich bringe Ungedei in`s Haus, ganz einfach!“, lacht er schelmisch und beißt krachend in den Ziegel.

„Aber warum machst du das? Du machst hier ja alles kaputt. Hör auf damit!“ Jettes Angst verfliegt langsam und in ihr kriecht stattdessen eine gewaltige Ladung Wut hoch.

Das ‚Ach‘ kringelt sich vor Lachen. „Johoo, ich zerstöre, ich mach kaputt, ich bringe Ärger, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Leid und Not. Joh – hihihihi, einfach alles was euch pfurzteufelkreuzunglücklich macht!“

Jette lässt sich sprachlos auf die alten Dielen niedersinken, und in ihrem Kopf fängt es an zu summen und zu brummen. Sie muss an die vielen schrecklichen Dinge denken, die sie in letzter Zeit erlebt und von denen sie gehört hat.

Die Arbeitslosigkeit ihres Vaters, die schwere Krankheit ihres Opas, Mamas kaputtes Auto, das abgebrannte Haus in der Nachbarschaft.

Sie fragt nach: „Hast du was mit Papas Arbeitslosigkeit zu tun? Und mit Mamas kaputtem Auto?“

„Joh, das war euer ‚Ach‘ unter eurem Dach“

„Opas Krankheit?“ „Joh, Opas ‚Ach‘ unter seinem Dach“!

„Das Feuer bei den Nachbarn?“ „Joh, das war Nachbars ‚Ach‘ unter dem Dach.“

„Und meine Fehler bei den Schularbeiten, die hinkende Henne und die zerstörte Fahrradfelge?“ Jette wird jetzt richtig sauer.

„Joh, joh, joh, joh!!!“ Das ‚Ach‘ reibt sich vor Freude die Hände und staubt fröhlich vor sich hin.

Jette schüttelt sich und denkt an schwere Überflutungen, Erdbeben und Vulkanausbrüche, Kriege und Erdrutsche auf der ganzen Welt.

„Das alles habt ihr ‚Achs‘ getan?“, fragt Jette leise.

„Johhh, nöööööö, na, wir können ja auch nicht immer und überall sein, Donnernochmalzu!“ grunzt das ‚Ach‘ und wird ein bisschen rot unter den staubigen Wangen.

„Aber warum nur, warum seid ihr so böse und gemein?“

„Jiph, böööööse? Gemeiheini? Pah, was ist das schon? Wer das nicht weiß? Pah!“, blafft das ‚Ach‘. „Bist du heute schon draußen gewesen? Was hast du heute gesehen. Hast du auf dich und den Garten, die Oma, deine Eltern, dein Fahrrad, die kranke Henne und die Schularbeiten geachtet? Und was hast du gesehen? Das, was kaputt, misslungen, und krank ist? Oder das, was gelungen, schön heil und gesund ist? Pah!“ Das ‚Ach‘ springt von einem Balken zum anderen und hangelt sich mit den Armen an den Dachsparren zurück. „Du siehst nur die Fehler in deiner Schularbeit, aber nicht wie viel du richtig schön gemacht hast. Du siehst die hinkende Henne, aber nicht wie viel Freude sie dir immer macht und wie viele schöne runde Eier sie immer noch legt, und das Fahrrad – wie schön ist es wohl, wenn du wieder auf deinem Fahrrad sitzen darfst und damit fahren kannst? Wie weit hat dich dieses Fahrrad schon getragen? Ist das nicht toll? OOOOch , und jetzt ist die Felge von deinem ‚Ach‘ unter deinem Dach angeknabbert! Pah! Was wollte er dir wohl damit sagen?“

Jette duckt sich und fragt leise: „Dass ich mehr auf meine Sachen achten soll?“

„Jupp, du sollst auf deine Sachen achten und auf andere Sachen achten und überhaupt die Augen aufmachen und Acht geben! Paff!“

Jette schaut aus dem kleinen Dachlukenfenster und sieht den strahlend blauen Himmel. Unten im Garten summen die Bienen. Zwischen den Blüten der Rabatten glitzern viele kleine Sonnenstrahlen. Die Vögel picken winzige Samenkörner auf und im Schatten des prall gefüllten Apfelbaums macht Omi in ihrem Liegestuhl ein Nickerchen.

„Wie schön“, denkt Jette und geht ein Stückchen zur Seite, um dem ‚Ach‘ Platz zu machen. Aber wo steckt das ‚Ach‘?

“Ach?“, ruft Jette verwundert, aber sie sieht nur eine feine Staubwolke unter dem Dachstuhl.

„Ach“, sagt Jette und klettert vorsichtig die alte Stiege hinab.

Nachdenklich geht sie in den Garten und kommt an dem kleinen Vogelhaus vorbei. Die Vogelmutter fliegt eifrig hin und her, um ihre hungrigen Küken zu füttern.

„Hallo Vogelmutter, wohnt unter Deinem Dach auch ein ‚Ach‘?“, fragt Jette. „Piep“ sagt die Vogelmutter und Jette versteht, als sie sie weiter beobachtet. Die Vogelmutter hat große Mühe, ihre Küken sattzubekommen, weil überall die Natur immer weniger wird, immer mehr Straßen gebaut werden und es immer weniger Futterplätze für die Vögel gibt.

Jette streut ein paar Haferflocken in das Vogelhaus, geht durch das Gartentor auf die Straße hinaus und wendet sich dem alten Hund von gegenüber zu, der träge vor seiner Hundehütte liegt.

„Hallo Stoffel, wohnt unter deinem Dach auch ein ‚Ach‘?“ „Wuff!“, sagt der alte Hund und Jette versteht. Seine gute Freundin, die kleine Terrierhündin Vicky ist weggezogen und nun sind die Tage lang und öde für den Hund geworden. Er ist traurig und fühlt sich allein.

Jette krault dem alten Hund den Nacken und hüpft weiter.

Unter der Veranda im Nachbarhaus wohnt die Katze Muschi. „Muschi, wohnt unter deinem Dach auch ein ‚Ach‘?“, fragt Jette. „Miau“ sagt die Katze und Jette versteht.

Die Katze war bei dem Versuch, einen Fisch aus dem Gartenteich zu stibitzen, in ein Dornengebüsch geraten und hatte sich die Pfoten verletzt, die sie nun ausgiebig leckt und schleckt. Jette streicht vorsichtig über die verletzten Pfoten und läuft die Straße hinunter.

Sie stolpert fast über einen kleinen Igel, der sich über die Straße kugelt. „Hallo Igel, wohnt unter Deinem Dach auch ein ‚Ach‘?“, ruft Jette ihm hinterher. „Fiiep“, sagt der Igel und Jette versteht. Er ist aus seinem Blätterhaufenhaus von einem neugierigen Hund vertrieben worden. Jette winkt ihm hinterher.

Am Ende der Straße trifft sie die Nachbarin, Frau Hecke, mit der die Oma so gerne Neuigkeiten austauscht. „Wohnt unter Deinem Dach ein ‚Ach‘?“ „Oh ja“, sagt Frau Hecke. “Manchmal denke ich, dass sogar ganz viele ‚Achs‘ bei mir unter meinem Dach wohnen.“ „Und was machen die ‚Achs‘ so bei dir?“, fragt Jette neugierig. „Ach“, stöhnt Frau Hecke, „das habe ich gerade deiner Oma schon erzählt. Manchmal tut mir der Rücken so weh, der Wasserhahn tropft und meine Waschmaschine ist kaputt. So sehen meine ‚Achs‘ aus.“ „OOhh“, sagt Jette, sie versteht, denkt an das alte baufällige Haus der Omi und wie viele ‚Achs‘ sie dort wohl schon ausgestoßen hat. Sie verabschiedet sich schnell und hastet zurück zur Oma, die gerade ihren Mittagsschlaf beendet hat.

„Omi, es stimmt, unter jedem Dach wohnt ein ‚Ach‘, ich habe ganz viele getroffen.“ Die Großmutter lacht und sagt: „Dann geh mal schnell zum Bauernhof runter. Unter dem Scheunendach sind gerade neue Lämmer geboren.“

“Ach“, ruft Jette freudig und läuft so schnell sie kann.