Immergrün

Meine Weihnachtsgeschichte – und die meiner Vorfahren

Zimtstern, Bratapfel, dunkelbrauner Gewürzkuchen mit Schokoglasur und der Duft von Tannengrün – das ist mein Weihnachten.

Die ganz einfachen, sinnlichen Empfindungen – Aromen, die zu einem Weihnachtsfest gehören. Ein Herd, der so blank poliert scheint, wie sonst das ganze Jahr nicht. Am knisternden Ofen die Wärme auf der Haut spüren – und viele Kerzen, die alles in ein warmes Licht tauchen.

Ich brauche keine Geschenke. Das duftende Grün einer festlich bunt geschmückten Tanne ist für mich das Symbol von Frieden, Harmonie, Glück und Zusammenhalt der Familie.

Soweit meine Erinnerungen zurückreichen, schmückt mein Vater den Weihnachtsbaum.

Stundenlang hängt er kleine Holzfiguren, bunt bemaltes Blechspielzeug, selbst gebastelte Girlanden aus lang zurückliegenden Kindergartentagen und inzwischen auch die gefalteten Werke seiner kleinen Enkeltöchter in den Baum.

Als Krönung des Ganzen bügelt meine Mutter Jahr für Jahr die roten Bänder für die Schleifen auf, die dem Weihnachtsbaum den letzten Schliff geben.

Seit 44 Jahren ist es so der Brauch. Seit 44 Jahren pilgert die ganze Familie, meine Brüder, die alleinstehende Schwester meiner Mutter, eine gute Freundin der Familie, und heute auch mein Mann, seine Söhne, unsere gemeinsame Tochter und eine weitere Enkelin zu meinen Eltern.

Und in all den Jahren hat es nur eine Panne gegeben. In jenem Jahr war der Baum – wie immer – wunderschön geschmückt. Alle sagten das – und doch war diesmal etwas anders an ihm als sonst.

Jeder grübelte für sich darüber, was wohl mit dem Baum nicht stimme – bis mir am 2. Weihnachtstag auffiel, dass eben jene roten Schleifen fehlten, die meine Mutter seit Jahren pflegte. Mein Vater hatte schlicht vergessen, sie anzubringen.

Dieses Ritual. – Dann in dem entscheidenden Moment, wenn meine Mutter im Wohnzimmer leise auf dem Klavier das erste Weihnachtslied „O, Tannenbaum“ anstimmt, fühle ich selbst in mir wieder die Aufregung und ahne, wie es heute im Bauch meiner kleinen Tochter kribbelt.

Einen Weihnachtsbaum hatte es für meinen Vater nicht immer gegeben.

In Angerburg, im damaligen Ostpreußen geboren, erlebte er wunderschöne Kindertage – satte Felder, dunkelblau spiegelnde Seen und die immergrünen Wälder Masurens.

Weihnachten wurde in dem eleganten Stadthaus der Eltern prächtig gefeiert. Seine Mutter Ida, eine gelernte Köchin, zauberte ein großartiges Weihnachtsmahl für die große Familie. Der Weihnachtsbaum war festlich geschmückt; im Ofen knisterte und duftete das Holz. Das ganze Haus strahlte vor Wärme und Geborgenheit.

Dann der Krieg.

Mein Vater ist gerade fünf Jahre alt, als die Einberufung seines Vaters zum Volkssturm folgt. Kurz danach, im eiskalten Winter 1944/45, die Flucht aus der Heimat mit der hochschwangeren Mutter und seinen zwei kleinen Geschwistern.

Der große Treck gen Westen – über Heilsberg, Königsberg, Metgethen bis nach Pillau.

Die Panik, nicht mehr auf das große Schiff, die „Wilhelm Gustloff“, gekommen zu sein – dann die erschütternde Meldung, dass die „Gustloff“ von drei Torpedos getroffen mit sechstausend Menschen an Bord gesunken ist.

Die Erleichterung, als endlich ein Schiff die Familie aufnimmt und an der Halbinsel Hela vorbei nach Godenhaven bringt.

Das Glück, als ein junger Kapitän nach einem Nervenzusammenbruch des kleinen Bruders ein Einsehen hat und meine Großmutter mit ihren Kindern über die Ostsee bis nach Schleswig-Holstein bringt.

Die Ungewissheit um den Vater.

Der Verlust der Heimat und der unbeschwerten Kindheit.

Mein Großvater Gustav kehrt im Jahr 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft zurück. Er findet seine Familie in zwei kleinen Zimmern über einem Stall auf einem Bauernhof in Dithmarschen wieder.

Seinen jüngsten Sohn, mit dem Ida hochschwanger die Flucht aus Ostpreußen antreten musste, sieht er dort das erste Mal. Was Gustav in dem Krieg gesehen und erlebt hatte – darüber sprach er niemals.

Meine Großmutter Ida – eine herzliche, rundum liebenswerte, warme Frau – schafft es, ihrem Mann und den Kindern ein behagliches Zuhause in der neuen Heimat zu schaffen. Unermüdlich arbeitet sie im neuen Haus auf dem alten Sommerdeich und im Garten, weckt rote und gelbe Mirabellen ein, brät knusprige Hühnchen, backt Mohnschnecken, wie ich sie nie wieder gekostet habe, und hat trotz der vielen Arbeit immer ein liebes Wort oder eine Umarmung für ihre Kinder und Enkelkinder übrig.

Das Weihnachtsfest bereitet sie für ihre Familie mit besonders viel Liebe vor. Das Haus duftet nach gutem Essen. Seit Tagen hatte sie gekocht und gebacken – den Fußboden gebohnert, den Herd blank poliert.

Und der Weihnachtsbaum? Nein, einen Weihnachtsbaum gibt es in Gustav’s und Ida’s Haus auf dem Sommerdeich nicht. Großvater Gustav weigert sich, einen Baum aufzustellen.

Einen Baum – immergrün – eine Tanne aus den dunklen Wäldern? Wie in Ostpreußen? Nein!

Ein Weihnachtsbaum wie in alten Zeiten – wie in der alten Heimat? Nein!

Ein Weihnachtsbaum steht dort, wo die Heimat, das Zuhause, Frieden, Glück und die Familie sind.

Hier in Dithmarschen ist nicht seine Heimat.

Frieden? Das war einmal. Glück? Lange her. Die Familie? Tot oder in ganz Deutschland verstreut.
Ein Weihnachtsfest mit geschmücktem Weihnachtsbaum im eigenen Zuhause hat es für diese Familie nie mehr gegeben.

Gustav war ein großer, starker, störrischer, aber gebrochener Mann.

Im Alter wurde er milder.

Im hohen Alter hatte er nur noch diesen einen Wunsch: „Noch einmal die alten Wege laufen!“

Dies aber durfte und wollte er nicht mehr erleben. Zu groß war die Angst vor dem, was aus seiner alten Heimat geworden ist. Zu sehen, dass die alten Häuser nicht mehr stehen, dass die geliebten Menschen nicht mehr leben, dass die Seen nicht mehr dunkelblau, die Felder nicht mehr bestellt, die Wälder nicht mehr immergrün sind?

Erst nach der Hochzeit mit meiner Mutter hat mein Vater zum ersten gemeinsamen Weihnachtsfest in der damals winzigen Wohnung eine kleine, grüne Tanne aufgestellt.

Er hat liebevoll die ersten Engel und silbrig glänzende Christbaumkugeln angebracht. Meine Mutter hat die ersten roten Schleifen gebunden. Und die Beiden erlebten nicht nur ihr erstes, eigenes gemeinsames Weihnachtsfest. Mein Vater erlebt auch sein erstes Fest mit einem geschmückten Christbaum seit seiner Ankunft vor vielen, vielen Jahren in Dithmarschen.

In diesem Jahr wird wieder die ganze Familie, die Schwester meiner Mutter und die Freundin der Familie zu meinen Eltern pilgern – mit Geschenken in den Armen. Die Männer der Familie bestehen darauf. Und mein Vater wird zum 45. Mal den Tannenbaum schmücken.

Er wird wieder in die glänzenden Augen seiner kleinen Enkelinnen schauen, die in froher Erwartung auf die Klänge aus dem Wohnzimmer lauschen, in dem meine Mutter auf dem Klavier das „O, Tannenbaum“ Lied anstimmt.

„O, Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter“.

Oh ja, immer wieder – für immer – immergrün.